Die Wohnungsverhältnisse der ärmeren Volksklassen in Bochum.

Ein Bericht des Bürgermeister Karl Lange von 1886.

 

Hans H. Hanke

 

Der folgende Quellen-Kommentar geht über eine einfache Einführung hinaus. Er versucht, die städtischen Teilbereiche Altstadt, Neustadt, Arbeitersiedlung, Obdachlosenunterkunft und Park in ihrem gesellschaftlichen und politischen Zusammenhang darzustellen, um so die Stadtgestaltung in der Industrialisierung aus davon abgeleiteten Regelhaftigkeiten zu erklären (I). Es empfiehlt sich, zuerst den Quellentext S. 143 ff (II) zu lesen. Die Karte S. 138 bezieht sich auf diesen Text.

 

I.

Der ”Verein für Socialpolitik” veröffentlichte 1886 die Ergebnisse einer Fragebogenaktion in 13 Städten des Deutschen Reiches zur Frage der ”Wohnungsnot der ärmeren Klassen in deutschen Großstädten”. Man hoffte, so zur Lösung des damals meistdiskutierten Problems beitragen zu können – der ”Sozialen Frage”.

”Soziale Frage”, das war die freundliche Umschreibung für die immer größer werdenden Spannungen in der deutschen Gesellschaft, ausgelöst durch Bevölkerungswachstum, Industrialisierung und die Entstehung von Ballungsgebieten. Während man heute im Zusammenhang mit sozialen Fragen an Arbeitslosigkeit denkt, war das damalige Arbeitsangebot im rheinisch-westfälischen Industriebezirk groß. So wurde das ”Revier” nicht nur Ziel einer immensen Zahl Arbeitssuchender aus den ländlichen Gebieten Deutschlands, sondern es befand sich auch innerhalb des ”Reviers” beständig ca. ein Drittel der Gesamtbevölkerung auf einer ruhelosen, aufreibenden Wanderung zu neuen, eventueil besser, aber selten ausreichend bezahlten Arbeitsplätzen. Die damit entstehenden Strukturprobleme fanden ihren Niederschlag in heftigen Diskussionen um zu geringe Löhne, Wohnraumnot ohnegleichen, Alkoholismus und Prostitution – eben der ”Sozialen Frage”.

Die bürgerlichen Kreise sahen durch die möglichen Folgen dieser miserablen Lebensumstände der Arbeiterschaft den eigenen, zum Teil fast unbeschränkten Wohlstand und politischen Einfluß in Gefahr gebracht, denn – so der Gedankengang – Unzufriedenheit erzeugt ”umstürzlerische Gesinnung”, und das beginnende Erstarken der Sozialdemokratie galt hier als Alarmzeichen. So suchte man mit furchtsamem Eifer nach einer möglichst ungefährlichen und preisgünstigen Lösung des Problems durch Reformen. Ohne Zweifel spielten bei den so Reformgesinnten auch althergebrachtes Wohlfahrtsdenken und menschliches Mitgefühl eine Rolle, aber letztlich wurde sozialer Fortschritt stets unter diesem Gefahrenbewußtsein eingeführt.

 

Im rheinisch-westfälischen Industriebezirk stand neben dieser ”internen” Motivation zur Problemlösung auch das Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung im immer noch von den Idealen des Adels geprägten Kaiserreich. Dieses Bemühen mußte aber um so weniger erfolgreich sein, je mehr das ”Revier””— der sogenannte ”wilde Westen” – als sozialer Krisenherd bekannt war. Architektonisch sind uns diese Bemühungen z. B. in den zahlreichen wappengeschmückten Fassaden des Historismus überliefert.

 

Dies waren in aller Kürze die allgemeinen Umstände, die Bürgermeister Lange bei der Beantwortung der Fragen nach den Wohnverhältnissen in seiner Stadt als bekannt voraussetzen konnte. Vieles andere beschreibt er uns anschaulich und genau.

Karl Lange, geboren 1831 in Königsberg/Neumark, wurde 1875 Bürgermeister Bochums – Oberbürgermeister war Karl Bollmann – und blieb es bis zu seinem Tode 1897. Bevor er dieses Amt übernahm, war er Kreissekretär in Hagen. 1892/93 wurde er freikonservativesMitglied des Provinziallandtages. Er führte in Bochum das für die Armenfürsorge als vorbildlich geltende ”Elberfelder System”ein und hatte auch das damit verbundene Amt des Vorsitzenden der ”Central-Verwaltung des Armenwesens” über lange Jahre inne. Werdegang und Haltung waren die eines typisch preußischen Verwaltungsbeamten. Politisch ist er als reformfreundlich im Sinne der Reformen von oben (Bismarck) anzusehen. Im Verwaltungsapparat befand er sich in weitgehend unabhängiger Position, aber der Wunsch nach Wiederwahl durch die Stadtverordnetenversammlung konnte ihn möglicherweise zu politischen Rücksichtnahmen zwingen.

In der damaligen Stadtverordnetenversammlung – gewählt nach dem Drei-Klassen-Wahlrecht – waren folgende Gruppierungen zu unterscheiden: Die Haus- und Grundbesitzer mit einer rechtlich garantierten Mehrheit von 50 % und die einkommensstarken Bürger, beurteilt nach ihrem Steueraufkommen. In beiden Gruppen ließen sich dann noch die durch die Industrialisierung zugewanderten Neubürger von denjenigen Altbürgern unterscheiden, die sich gegen eine industrielle Bevormundung zur Wehr setzten. Die ”arbeitende Klasse” hatte als gering besteuerte Gruppe selten gewählte Vertreter. Unterschiedlichste Interessen trafen in der Stadtverordnetenversammlung in wechselnden Konstellationen aufeinander, und diese kommunale Gratwanderung lange erfolgreich bewerkstelligt zu haben, zeugt von der Erfahrung und Sachkenntnis Langes, die ihn für uns zu einem guten Berichterstatter macht.

Ein schlechter Bürgermeister seiner Stadt wäre er aber gewesen, hätte er in seinem Bericht nicht die Stärken Bochums mehr betont als die Schwächen, denn die Schriften des ”Vereins für Socialpolitik” fanden eine breite Öffentlichkeit.

Gerade dieses Verhalten ermöglicht es uns dann auch, durch die Analyse seiner Sicht der Bochumer Verhältnisse, Rückschlüsse auf die Stadtgestaltung im 19. Jahrhundert zu ziehen, deren Teilbereiche zwar hinlänglich untersucht, deren großer Zusammenhang aber meist nur in Nebensätzen Erwähnung findet.

Lange lobt gleich zu Beginn die sozialen Einrichtungen des Bochumer Vereins (i. F.: BV.), nämlich die Siedlung Stahlhausen und das Kosthaus. Doch er macht nicht darauf aufmerksam, daß 2000 bis 4000 der 4000 bis 6000 Arbeiter des BV.s auf die eigene Wohnungssuche angewiesen blieben, teilweise samt ihren Angehörigen. Genauso vermeidet er es, darauf hinzuweisen, daß das Kosthaus 1886 bereits überfüllt war, was er sicher wußte. Erinnert sei auch daran, daß bei der Errichtung Stahlhausens – wie bei allen Werkssiedlungen – menschliche Anteilnahme nicht die vorrangige Motivation war, wie Lange uns glauben macht. Im Vordergrund stand vielmehr der Wunsch, sich einen festen, leistungsfähigen Arbeiterstamm zu halten, auszubilden und zu disziplinieren, um die Produktion vor Arbeitermangel, unqualifizierten oder streikwilligen Arbeitern zu schützen. Ein auch 1886 noch gültiges Zitat zur Arbeitersiedlungsfrage aus dem ”Arbeiterfreund, Jg. 1865” steht in seltener Überspitzung für solche Erwägungen: ”Es ist durchaus nicht abzusehen, weshalb die Thätigkeit sowohl der Polizei als des Militärs – wann und soweit sie dann eine traurig unvermeidliche Nothwendigkeit wird -in einer solchen offenen, ländlichen Ansiedlung in und zwischen kleinen niedrigen Häusern mehr Schwierigkeiten finden sollte als in den engen Straßen zwischen hohen weitschichtigen Häusern der Städte. Vielmehr liegt das Gegenteil unabweislich auf der Hand. (...)Der Arbeiter wird sich nicht zweimal, sondern zehnmal besinnen, ehe er nicht fremder und reicher Leute große Häuser, sondern sein eigen Häuschen und Gärtchen zum blutigen Kampfplatz macht.”

Optimierter Arbeitseinsatz, soziale Befriedung und Kontrolle waren bestimmende Überlegungen zur Standortwahl der Siedlungen. Darum entstand Stahlhausen in günstiger Lage zum BV. Auffällig ist aber auch der große räumliche Abstand zur Stadt, der damit, daß sonst kein Boden zur Verfügung gestanden hätte, nicht hinreichend erklärt ist. Im räumlichen Abstand des Arbeiterviertels zum bürgerlichen Stadtzentrum drückt sich neben den oben genannten Gründen der Standortwahl der gewollte gesellschaftliche Abstand Bürger/Arbeiter aus, gleichermaßen begründet aus Überlegenheitsgefühl und Angst des Bürgertums. So ist auch zu beobachten, daß kein angesehener Bürger seinen Wohnort in die Nähe Stahlhausens verlegte.

 

Die von Lange gerühmten sozialen Einrichtungen des BV.s waren aus rein privater Unternehmerinitiative entstanden. Die Stadt hatte keinen Anteil daran. An kommunalen Maßnahmen zur Besserung der Wohnverhältnisse kann Lange fast nur Mietbeihilfen, eine neue Bauordnung und Wasser – sowie Abwasserleitungen aufzählen – auch zu seiner Zeit selbstverständliche Maßnahmen, die nichts destotrotz nur unzureichend ausgeführt wurden.

 

Als weitere soziale Maßnahme der Stadt führt er die Obdachlosen-Baracken auf. Doch vergleicht man die Vorgeschichte ihrer Entstehung – von Lange an anderem Ort selbst beschrieben (s. u.) – mit dem nun von ihm suggerierten Beweggrund ”Soziales Verantwortungsgefühl”, kommt man nicht umhin, hier eine grobe Falschinformation zum ”Besten” der Stadt festzustellen, unter Hintenanstellung seiner eigenen Person: Treu seinem eigenen Konzept, das er am Schluß seines Berichtes vorstellt, hatte Lange bereits 1883 den Bau einer Siedlung auf städtischem Grund vorgeschlagen. Die Stadtverordneten lehnten rigoros ab, ließen als Ersatzlösung ein Mietshaus planen, lehnten abermals ab und genehmigten letztendlich nicht einmal eine Baracke. Dies geschah erst, nachdem eine 1884 drohende Cholera-Epidemie die Räumung des bis dahin als Obdachlosen-Unterkunft benutzten Reservelazaretts notwendig machte. Die Einwände der Stadtverordneten lauteten: Die Kosten seien nicht tragbar, zudem zögen solche Wohnungen noch mehr ”liederliches Gesindel” an, es würde aber auch ”das Interesse der Hausbesitzer gestört”, ”das dieselben ihre Grundstücke in angemessener Weise verwerten”, weil dann möglicherweise eine große Zahl von Mietern ”nicht mehr die Wohnungen der Hausbesitzer ermiethen würden”. Von anderer Seite wurde das Vorgehen sogar als ”Humanitätsduselei” bezeichnet, das geeignet wäre, ”der Socialdemokratie Vorschub zu leisten” und die Zechen- und Hüttenbesitzer in ihren ”wesentlichen Interessen” zu schädigen, denn wenn die ”fleißigen und ordentlichen Arbeiter sähen”, daß die ”heruntergekommenen Personen” freie Wohnung hätten, würden sie auch keine Miete mehr zahlen wollen, zudem wären die Obdachlosen kräftig genug, sich durch Arbeit ihre eigene Wohnung zu beschaffen, dies sei keine städtische Aufgabe.

 

Lange gab seinen Plan jedoch nicht auf Er erkundigte sich in 51 Städten des Deutschen Reiches nach deren Umgang mit der Wohnungsnot und veröffentlichte das für Bochum beschämende Ergebnis 1884. Diesen außergewöhnlichen Aufwand betrieb er wahrscheinlich in der Hoffnung, durch die so gewonnene Öffentlichkeit die Stadtverordneten zu weitreichenderen Maßnahmen bewegen zu können. Doch er hatte sich getäuscht, es blieb bei den Baracken. 1886 – in der uns vorliegenden Schrift – hat Lange anscheinend resigniert und verzichtet auf eine nochmalige direkte Aufzeigung der städtischen Möglichkeiten, ja er gibt sich sogar Mühe, ein möglichst freundliches Bild der Misere zu zeichnen, wie wir gesehen haben.

Wovor hat er nun resigniert? In Erinnerung an die anfangs geschilderten politischen Verhältnisse ist leicht erkennbar, daß es die Interessen der Haus- und Grundbesitzer waren, die sich hier mit aller Macht Bahn brachen. Es war die Kehrseite des Vorganges, der die ”regelmäßigen herrlichen Straßen” mit den ”stattlichen massiven Neubauten”in der Neustadt entstehen ließ – der von Lange beklagten Bodenspekulation, auf die wir hier ein wenig näher eingehen müssen:

 

In der vom Liberalismus bestimmten Wirtschaftsordnung des Kaiserreiches war die Gesamtfläche des Bodens -wie auch heute – Handelsware. Dabei betrachten wir jetzt nur einmal die Fläche einer Stadt wie Bochum. Hier wurde der Wert eines einzelnen Grundstückes davon bestimmt, wie gewinnbringend es genutzt werden konnte, z. B. wieviel Miete ein darauf entstehendes Haus einmal erbringen würde. Das hing entscheidend von der Lage des Hauses ab. So wurde von der Errichtung eines repräsentativen Neubaus in der neuen Stadtmitte viel Ertrag erwartet, denn hier konnte man erfahrungsgernäß mit zahlungskräftigeren Mietern rechnen. Von einem Haus in unfreundlicher und/oder unzugänglicher Lage galt entsprechend das Gegenteil. Solche Erwartungen bestimmten den Handelswert eines Grundstückes von vornherein. Der Bodenspekulant kaufte nun ein Grundstück, bebaute es oder auch nicht, und suchte, es mit Gewinn weiterzuverkaufen. Meist wartete er dabei bestimmte preissteigernde Entwicklungen ab, auf die er vorher ”spekuliert” hatte, z. B. die Ausweitung der Stadtmitte in vorher abgelegenes Randgebiet oder bestimmte kommunale Maßnahmen, wie die Projektierung einer neuen Straße oder etwa eines Parks. In jedem Fall versuchte er – soweit es in seiner Macht stand und nicht immer mit legalen Mitteln – Entwicklungen, die seinen Erwartungen zuwiderliefen, abzublocken oder aber sich bei miß-lungener Spekulation an Mietern oder anderen schadlos zu halten. Im preußischen Kommunalrecht waren die Möglichkeiten einer solchen Einflußnahme sehr groß, denn – wie gesagt – die Haus- und Grundbesitzer hatten in den Stadtverordnetenversammlungen eine garantierte Mehrheit von 50 %.

 

In Bochum war die Ansiedlung von Obdachlosen in der Stadt eine spekulationsstörende Entwicklung. In der Nähe ihrer Wohnungen waren die Mieten ein für allemal verdorben. Darum sollten die Obdachlosen. wenn es schon sein mußte, wenigstens nicht auf Bauerwartungsland siedeln. So wurde durch Bodenspekulation bewirkt, daß sie – ”der Auswurf der Menschheit” – als unerwünschte Gruppe ihren Ort ”an einem unbebauten Seitenweg außerhalb der Stadt”zugewiesen bekamen, weit entfernt von Industrie und Bürgertum.

 

Doch eventuell lief vor der Bodenspekulation, bei der Entscheidung, was denn nun Bauerwartungsland für welches Bauvorhaben wird, ein Prozeß ab, der aus gesellschaftlichen Wertvorstellungen heraus erklärt werden muß. Beide Prozesse voneinander zu trennen, ist schwer, doch soll es am Beispiel des Bochumer Stadtparks versucht werden:

”Opfer auf Opfer”habe die Stadt Bochum für die Lösung der ”Sozialen Frage” gebracht, im Jahr 1885 allein 9356 MK. 1876 habe die Stadt sogar für 230 000 MK einen Stadtgarten auf städtischem Boden anlegen lassen, ”in welchem sich die arbeitenden Klassen... nach des Tages Last und Müh” erholen können, so Lange.

 

Unbestritten bleibt der Stadtpark eine der wertvollsten städtebaulichen Maßnahmen jener Zeit, unbestritten bleibt ebenfalls, daß Arbeiter ihn gerne besuchten. Im Zusammenhang mit Wohnungsnot und ”Sozialer Frage” muß Langes Darstellung trotzdem mit größter Vorsicht aufgenommen werden. Schon in den frühen Begründungen für die Errichtung des Stadtparks wurde nur von Wunsch nach einer ”Promenade” für die ”Mitbürger”gesprochen, und damit sind nicht die ”arbeitenden Klassen” gemeint. Wer den Stadtpark maßgeblich nutzte, zeigte sich dann ab 1890, als dort – kaum zufällig – das Villenviertel entstand.

 

Doch weit bezeichnender ist die einfache Rechnung, daß für die Erstellungs- und Unterhaltungskosten des Stadtparks bis 1886 auf demselben Grundstück – der ehemaligen Vöde – eine Siedlung mit ungefähr 70 Häusern für je 2 bis 4 Familien (ca. 1000 Personen) hätte entstehen können. Wir dürfen – wie oben gezeigt – davon ausgehen, daß Lange sich dieser Möglichkeit bewußt war, schlägt er doch selbst städtischen Boden für solche Zwecke vor. Auf der Vöde zu planen, war ihm aber wahrscheinlich ein zu ”heißes Eisen”, denn die Auflösung der Vödewirtschaft war seit Jahrzehnten ein Politikum ersten Ranges.

 

Die Altbürger, die ”ihr Vöderecht” verteidigten, standen gegen die Neubürger, die die aufstrebende Stadt von den unerwünschten Resten der Ackerbürgerstadt befreien wollten – dem Viehtrieb. Ein Park ermöglichte im gewissen Rahmen eine weitere allgemeine Nutzung, hob aber gleichzeitig den Ruf der Stadt. So gesehen war der Stadtpark der kleinste gemeinsame Nenner einer von ländlicher und industrieller Lebensweise gleichzeitig geprägten Stadt. Dennoch muß man sehen, daß sich dabei die Altbürger unter weitgehender Aufgabe ihrer überlieferten Rechte – möglicherweise auch aus Lokalstolz – der Argumentation der Neubürger ergaben. Nur eines war anscheinend beiden Gruppen auch unausgesprochen klar: Eine Kolonie an dieser Stelle hätte allen bürgerlichen Erwartungen absolut widersprochen.

 

Von solchem Repräsentationswillen gegründet, wurde der Stadtpark die Bühne, auf der das neue Selbstbewußt-sein des Bürgertums vorgeführt und von allen eingeübt werden konnte. ”Gute Beispiele erzeugen gute Sitten”, zumal wenn sie von strengsten Benutzungsordnungen unterstützt werden, die es ermöglichten, auch die ”verrohte und verwilderte arbeitende Klasse” in diesen Erziehungsprozeß einzubeziehen. Und dies war im rheinisch-westfälischen Industriebezirk – wie anfangs begründet – eine ”Soziale Einrichtung” politischer Dringlichkeit, wollte man zu Stand und Ansehen gelangen.

 

Gezeigt werden sollte, daß der Stadtpark selbst und seine Lage nicht von der Bodenspekulation bestimmt wurden. Seine Lage ”im unmittelbaren Anschluß an die Stadt” – eine sehr subjektive Einschätzung Langes, wie ein Blick auf die Karte zeigt – wurde vielmehr deswegen so gewählt, weil er ein Ort neuen bürgerlichen Anspruchsdenkens war, der es ”verdiente”, der Neustadt möglichst nah zu sein.

 

Stahlhausen, Obdachlosenbaracke und Stadtpark haben nach ihrem gesellschaftlichen Rang auch ihre lokale Zuweisung erhalten. Allein die Altstadt scheint nicht in dieses Schema zu passen. Doch sie war alte, ”leider” vorhandene Architektur, die nicht mehr ”funktionierte”. Selbst im besten Zustand hätte sie weder dem damaligen bürgerlichen Repräsentationsbedürfnis genügt – ein Grund, warum die ”zuerst durch Straßen kaum mit der Altstadt verbundene” (!) Neustadt entstand und so viel anders aussah –, noch hätte sie Unternehmen als gestaltetes Arbeiterviertel dienen können, da sie zu schlecht zu kontrollieren war und zu weit abseits der Industrie lag.

 

Somit verkam die Altstadt zur verrufenen Notunterkunft, die dem allmählichen Verfall preisgegeben war und sank im Ansehen so stark, daß sie sich in Bochum nie wieder davon erholen sollte. Auch so dokumentierte sich der Sieg der industriellen Lebensweise über die Traditionen der ländlichen Gesellschaft.

 

Langes Bericht gibt uns also nicht nur die Möglichkeit, einen Blick in die Lebensweise Bochums 1886 zu werfen, sondern wir können durch ihn auch das Entstehen einer Stadtgestalt pointiert beurteilen, die uns in zahllosen Bildbänden nur in romantischer Verklärung überliefert ist.

 

Die soziale Zonung der Stadt Bochum 1886 ist der bauliche Ausdruck ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse, die durch das Überwinden ländlicher Lebensformen durch industrielle Lebensformen bestimmt werden. Werkzeug der Zuweisung bestimmter sozialer Gruppen an bestimmte Orte war der Bodenmarkt, gesteuert von bürgerlichen Interessen. Maßstab der Wertschätzung eines bestimmten Ortes in der Stadt war seine Lage zum Brennpunkt bürgerlichen Lebens – der neuen Stadtmitte.

 

Der Begriff des ”wuchernden Stadtwachstums”, so scheint es, greift zumindest in Bochum zu kurz. Hier entstand Stadtgestalt durch einen festen gesellschaftlichen Mechanismus, gegen den aufzukommen selbst einem einflußreichen Mann wie Karl Lange mißlingen mußte.

 

 

II

Die Wohnungsverhältnisse der ärmeren Volksklassen in Bochum. Von Bürgermeister Lange.

 

Wer die Stadt Bochum vor vielleicht 20, 30, 40 oder gar 50 Jahren mit ihren Zuständen und Einrichtungen kennen gelernt hat, und wer sie nach längerer Abwesenheit heute besuchen und sich in ihr umsehen sollte, würde dieselbe kaum mehr wiedererkennen. In einem von einer Gesellschaft vaterländischer Gelehrten zu Anfang der dreißiger Jahre bearbeiteten ”Allgemeinen Conversations-Lexicon” (Berlin, in Lewents Verlagsbuchhandlung 1834) heißt es wörtlich: ”Bochum..., Kreisstadt in dem Bezirk Arnsberg der preußischen Provinz Westfalen mit 402 Häusern und 2000 Einwohnern, die außer den Produkten ihres ansehnlichen Feldbaues kleine Eisenwaaren, insonderheit Kaffeemühlen, und auch Tuch liefern”, während heute die Stadt rund 42000 Einwohner zählt und von der Fabrication kleiner Eisenwaaren, namentlich von Kaffeemühlen, und von Tuch kaum mehr eine Spur vorhanden ist. In dem uralten Stadttheile, der aus engen, winkligen Straßen, mit zweistöckigen, unregelmäßig, zumeist aus Steinfachwerk, erbauten Häusern bestand, sind sehr erhebliche Verbesserungen durch Umbauten und massive Neubauten hervorgerufen. Neben dem alten Stadttheile ist ein neuer entstanden, der regelmäßige, herrliche Straßen mit großen, freien Plätzen besitzt, an welchen stattliche massive Neubauten mit drei-, mitunter auch vier- und in einzelnen wenigen Fällen sogar mit fünfstöckigen Häusern sich befinden, die einen großstädtischen Eindruck hervorrufen.

 

Es wird in der Stadt die Fabrication von Groß-Eisenwaaren, insbesondere von Eisenbahnschienen, Ei- senbahnschwellen, Kanonen, Glocken, Bergbaumaschinen, gußeisernen Bedarfsartikeln für die Zechen, Feilenhauerei u. s. w., schwunghaft betrieben, und die nächste Umgebung hat so erhebliche Kohlenbergwerke, daß die Belegschaften der einzelnen Zechen nicht bloß nach Hunderten, sondern nach Tausenden zählen. Es ist selbstredend, daß durch derartige Fabrications- und Arbeitsstätten sich eine bedeutende Zahl von Arbeitern nach der Stadt ziehen muß, und daß durch dieselben Wohnungen und Lebensmittel in hohem Grade auf Preise getrieben werden, die nicht im Verhältnisse zu dem eigentlichen Werthe derselben stehen. Dazu kommt, daß das Areal des gesammten städtischen Weichbildes nicht von großer Ausdehnung ist. Die Stadt umfaßt 607 ha, 66 a und 16 qm. In unmittelbarem Anschluß an dieselbe befinden sich ländliche Ortschaften, deren Bewohner zu der Stadt in den engsten Beziehungen stehen und deren Arbeiterbevölkerung zum Theile in der Stadt ihre Beschäftigung findet. So befinden sich [nördl.: Hamme, Hofstede, Riemke; nordöstl.: Grumme; östl.: Altenbochum, Berge, Gerthe; südl.: Wiemelhausen; westl.: Eppendorf, Bärendorf].

 

Einzelne dieser Ortschaften befinden sich in derartig engem Anschluß an die Stadt, daß Fremde, welche die örtlichen Verhältnisse nicht kennen, nicht wissen würden, daß, während sie annehmen, sie befänden sich in der Stadt Bochum, sie sich bereits in einem Theile einer jener ländlichen Ortschaften aufhalten. [...]

Die Bevölkerung hat sich, trotz der ungünstigen Verhältnisse, von Jahr zu Jahr vermehrt. Aus Zusammenstellungen des städtischen Meldeamtes über Zu- und Abzug] ergiebt sich, daß nach Abzug der von hier verzogenen Personen der Zuzug von Personen ein derartig enormer gewesen ist, daß derselbe die abziehenden Personen jährlich um Tausende übersteigt. Dazu kommt außerdem, daß nach den amtlichen Registern des hiesigen städtischen Standesamtes bei demselben [1875-1885 3728] Ehen geschlossen worden sind.

 

Die allermeisten der durch diese Eheschließungen gegründeten Familien gehörten dem Arbeiterstande an und nahmen ihren Wohnsitz in der hiesigen Stadt. Die vorhandenen Wohnungen sind daher durch den Zuzug und durch die neu gegründeten Familien in der Regel sofort in Beschlag genommen worden, und es mußten ältere Familien, wenn sie nicht zu den ordentlichen und zu solchen gehörten, die pünktlich und regelmäßig ihren Verpflichtungen gegen ihre Hauswirthe nachkamen, die innegehabten Wohnungen räumen.

 

Der seit dem Jahre 1854 gegründete Bochumer Verein für Bergbau und Gußstahlfabrication beschäftigt in gewöhnlichen Zeiten auf seinen ausgedehnten Fabricationsstätten 4000 und in guten Zeiten ca. 6000 Arbeiter.

Die in der Nähe von Bochum belegenen Zechen weisen nach einer statistischen Aufnahme [21 786 Angestellte, Arbeiter und deren Familien nach]. Ein großes Contingent dieser Arbeiter wohnt in Bochum.

Bei der Volkszählung am 1. December 1871 waren in der Stadt vorhanden: 1271 Wohnhäuser, 19 sonstige Aufenthaltsorte und 6 Anstalten zum gemeinsamen Aufenthalt.

 

Es sind nun nach der von dem hiesigen Stadtbauamte amtlich aufgestellen Nachweisung der in den Jahren 1870 bis incl.1885 im hiesigen städtischen Weichbilde erbauten Wohnhäuser [1870 83 Häuser erbaut, 1871 106, 1872 194, 1873 244, 1874 177, 1875 113, 1876 31, 1877 10, 1878 6,1879 2, 1880 2, 1881 2, 1882 17, 1883 37, 1884 31 und 1885 39], so daß in den bezeichneten 16 Jahren zwar 1157 Bauconsense ertheilt, aber nur 1090 Häuser erbaut worden sind.

 

Unter diesen Wohnhäusern sind zur Aufnahme von Arbeiterfamilien ausschließlich eingerichtet: [1872 49, 1873 28, 1878 1,1882 6, 1883 5, 1884 11 (darunter 10 durch den Bochumer Verein), 1885 2, zusammen also 102 Häuser].

 

Die in der Stadt vorhandene Wohnungsnoth veranlaßte sodann den Bochumer Verein, nach und nach 75 Doppel- oder 150 einfache Wohnhäuser mit 397 Familienwohnungen zu erbauen. Zur Zeit befinden sich in diesen Haushaltungen 2173 Köpfe. Diese Arbeitercolonie besteht

 

I. aus einstöckigen Häusern, welche je 4 Wohnungen in sich haben. Die Wohnung besteht aus 2 Zimmern, einem Bodenraum, einem Keller, einem Stall und 5-6 Quadrat-Ruthen Gartenland. An Miethe werden für die Wohnung mit Stall 98 Mk. und ohne Stall 88 Mk. an den Vermiether (den Bochumer Verein) gezahlt.

II. Aus 1 _stöckigen Häusern, welche je 4 Wohnungen zu 3 Zimmern mit einem Flur, der zugleich Küche ist, haben und zu welchen je ein Stall und 5-6 Quadrat-Ruthen Gartenland gehören. Der Miethspreis für eine solche Wohnung ist auf 140-150 Mk. pro Jahr normirt.

Wohnungen, aus 4 Zimmern, Flur, einem Stall und Garten bestehend, werden mit 158 Mk. Miethszins vergütet.

III. Aus 2stöckigen, sogenannten Schweizerhäusern, welche aus je 8 Wohnungen zu je 3 Zimmern, einer Küche, einem Keller und einem Bodenraum bestehen, zu welchen außerdem je ein Stall und 3-4 Quadrat-Ruthen Gartenland gehören. Für eine solche Wohnung werden 130 und 134 Mk. pro Jahr gezahlt.

IV. Aus 2 _stöckigen Häusern, aus je 12 Wohnungen zu je 2 Zimmern und einer Küche mit 3 Quadrat-Ruthen großem Gartenland. Der Miethspreis für diese Wohnungen ist im 1. und 2. Stock 120 Mk., im 3. Stock 96 Mk. pro Jahr.

Nach den hier bestehenden Miethspreisen sind die angeführten Miethsbeträge nur als äußerst mäßige zu bezeichnen.

Der Bochumer Verein giebt diese Wohnungen inder Regel nur an ordentliche, zuverlässige Arbeiter, die schon seit längerer Zeit bei ihm in Arbeit stehen und gegen deren Betragen keine Klagen erhoben sind. Es ist ein großes Drängen seitens der Arbeiter nach diesen Wohnungen, weil dieselben außer dem sehr mäßigen Miethsbetrage in durchaus gesunder Lage sich befinden, und weil alle Bequemlichkeiten in unmittelbarer Nähe derselben vorhanden sind. So hat z. B. der Bochumer Verein eine Consumanstalt inmitten derselben errichtet, aus welcher die Bewohner dieser Arbeitercolonie Waaren aller Art zu einem durchaus mäßigen Preise erhalten können, weil es dem Bochumer Verein weniger um einen besonderen Gewinn bei dem Verkauf dieser Waaren in der Consumanstalt zu thun ist, als vielmehr darum, seinen Arbeitern möglichst viele Vortheile zuzuführen. Nach den gesammelten Erfahrungen will der Bochumer Verein bei Durchführung seiner wohlwollenden Absicht für seine Arbeiter nur die Selbstkosten decken.

Die Häuser dieser Arbeitercolonie bilden längs der Straßen nicht dicht geschlossene Reihen, sondern sind in gegenseitigen Abständen, welche etwa der Länge eines Hauses gleichkommen, aufgeführt. Diese Zwischenräume sind zur Aufnahme der Ställe und Düngergruben benutzt, während der zwischen den Hausfronten und der Straße liegende Raum zu Vorgärten, in welchen hauptsächlich Gemüse gezogen wird, verwendet ist. Die ganze Bauweise gewährt jedem einzelnen Hause eine freie und luftige Lage.

 

Die in jedem einzelnen Hause befindlichen Familienwohnungen sind vollständig von einander getrennt, so daß die Bewohner verschiedener Wohnungen nicht in die geringste Berührung mit einander kommen.

 

Dieses System ist von dem Bochumer Verein bei seinen Bauausführungen als Princip aufgestellt worden, welches sich bei den seit einer längeren Reihe von Jahren gemachten Erfahrungen vollständig bewährt hat, und welches als besonderer Vorzug bei Auftreten epidemischer Krankheiten bezeichnet werden muß.

 

Ein besonderer Vortheil, welchen die strenge Sonderung der Wohnungen gewährt, ist der, daß der Eingangsflur — ein Raum, der bei gleichzeitiger Benutzung durch mehrere Familien nur als Passage und zur Aufnahme der Treppe dienen kann, im übrigen aber verloren zu geben ist – hier als Küche sehr wohl benutzt werden kann.

 

Die Erweiterung dieser Arbeitercolonie ist bei Gründung derselben von vornherein vorgesehen und auch mehrfach bereits erfolgt. Bei Neuprojecten ist jeder Wohnung ein Meter Breite mehr gegeben, und haben bei den neuesten Häusern der Colonie die Ställe nebst Düngergruben die Aenderung erfahren, daß aus Gesundheitsrücksichten der directe Anschluß der Ställe, resp. der Düngergruben, an das Wohnhaus vermieden wird und daß die Häuser ganz unterkellert sind.

Die zwischen den Häusern und der Straße befindlichen Räume sind zur Benutzung als Gärten für jede einzelne Familienwohnung getrennt, durch lebendige Hecken eingefriedigt und innerhalb der Einfriedigung längs der Straße Baumreihen gepflanzt.

 

In dieser Arbeitercolonie hat der Bochumer Verein zur Befriedigung eines dringenden Bedürfnisses eine Kinderbewahrschule (Kindergarten) errichtet, in welcher Kinder der Arbeiter von 3-6 Jahren Vor- und Nachmittags während mehrerer Stunden Aufnahme zu geselligen Spielen und zu entsprechender Beschäftigung finden. Es soll dadurch nicht allein die Hausfrau entlastet, sondern auch zu besserer Erziehung der Kinder durch gute Vorbilder herangebildet werden, In dieser Anstalt sind in zwei Abtheilungen zur Zeit 157 Kinder vorhanden. Mit dem Kindergarten ist gleichzeitig eine Schule für weibliche Handarbeiten für Mädchen im Alter von 14 bis 17 Jahren verbunden, um diese für den Hausstand in dieser Richtung vorzubereiten. Diese Nähschule ist zur Zeit von 49 Schülerinnen besucht, und müssen von derselben die erfreulichen Resultate berichtet werden. Die Arbeitercolonie zu Stahlhausen ist seit ungefähr 20 Jahren gegründet und, wie bereits oben angeführt, nach und nach erweitert worden.

Damit aber allein hat sich der Bochumer Verein nicht begnügt.

Er hat im Jahre 1873 in der Nähe der Colonie Stahlhausen ein Kost- und Logirhaus für 1500 unverheirathete Arbeiter errichten lassen, welches einerseits getrennte, gesunde und billige Schlafstellen, sowie andererseits gemeinsame, geräumige und freundliche Aufenthaltsorte während der Mahlzeit und Freistunden gewähren sollte.

Zur Aufrechthaltung der Ordnung und um eollisionen mit dem weiblichen Wirthschaftspersonal zu verhüten, ist eine strenge Scheidung zwischen den für die Bewohner bestimmten Räumen und zwischen den Wirthschaftsräumen vorhanden.

Das Vordergebäude, das eigentliche Logirhaus, umfaßt in 4 Stockwerken ca. 150, größtentheils gleich große Stuben für je 4, 8 oder 12 Mann. Dem Licht und der Luft ist der freieste Zutritt dadurch verschafft, daß die Stuben nur an einer Seite der Verbindungscorridore angelegt sind. Diese Corridore und die Treppen sind hell, luftig und feuerfest construirt. Im Kellergeschoß des Logirhauses befinden sich 2 Restaurationen, die von der Straße aus Jedermann zugänglich sind, sowie ein Verkaufslocal, eine Consumanstalt, woselbst alle Waaren nur unter Zuschlag der Verwaltungskosten, also zum Selbstkostenpreise, abgegeben werden.

 

Im zweiten Stock befinden sich die Wohnung des Inspectors, sowie Zimmer zur Aufbewahrung der Bettwäsche und sonstiger Ausrüstungsgegenstände.

 

Der cubische Inhalt des einzelnen Zimmers beträgt ca. 120 Kubikmeter und, da durch den Wechsel der Tages- und Nachtarbeit immer nur 4 Betten gleichzeitig belegt sind, pro Bett 30 Kubikmeter Raum. Um die Luft jederzeit rein zu erhalten, gehen von jedem Schlafraum Aspirationsschachte bis zum Dachboden und wird eine directe Lufterneuerung außerdem noch durch Abzugsöffnungen über den Fenstern und Thüren zum Corridor erreicht. Die Heizung der Wohn-, resp. Schlafräume geschieht durch erwärmte Luft aus 6 Caloriferen.

 

Das Mobiliar jedes Schlafraums besteht aus schmiedeeisernen Bettstellen, zu deren jeder ein Strohsack, ein mit Seegras befülltes Kopfkissen, ein halbleinenes Betttuch und je nach Bedarf 1-3 wollene Decken gehören. Jeder Bewohner erhält ferner einen gut verschließbaren, einfach construirten, festen, zur Aufbewahrung von Kleidungsstücken und Wäsche ec. eingerichteten Schrank, sowie einen Holzstuhl und ein Handtuch. Ueber den Betten befindet sich eine Anzahl Kleiderhaken und in jedem Zimmer außerdem ein Tisch. Die Wände sind 2_ Meter hoch, mit Cement glatt verputzt und ebenso, wie die Decke, in hellfarbigen freundlichen Tönen mit Wasserfarben gestrichen. Der Fußboden besteht aus gut geölten starken Kerndielen von Kienholz. Die Fenster, mit je 2 großen Luftscheiben versehen, sind aus Gußeisen, die Thüren aus starkem Tannenholz. Die Corridore sind gewölbt, mit einem Boden belegt – aus Asphalt bestehend – und werden durch Gas erleuchtet. In jedem Stockwerk befinden sich an den Enden des Corridors je 4 Nachtclosets und Pissoirs mit Wasserspülung, sowie 4 Feuerhähne. Die Bedienungs-, resp. Bewachungsmannschaften der Caserne sind für den Feuerwehrdienst eingeschult, und befinden sich in dem im Souterrain eingerichteten Wachtlocale die zum Löschen erforderlichen Utensilien. Die Caserne steht außerdem mit der Fabrik in telegraphischer Verbindung, um bei ausbrechendem Feuer event. die Feuerwehr der Fabrik zu Hülfe zu rufen. Außer den angeführten Feuerhähnen vertheilen sich auf dem Terrain der Gesammtanlage noch 10 Hydranten, auf welche Standrohre mit 2, resp. 4 Schlaucheinsätzen aufgeschraubt werden können. Hinter diesem Vordergebäude befindet sich ein Hintergebäude, das eigentliche Kosthaus (die sogenannte Menage). Dasselbe enthält den großen Speisesaal für 1000 Mann mit davorliegenden Waschstuben und außerdem die erforderlichen Wirthschaftsräume. Der Speisesaal hat eine Grundfläche von 900 qm und eine durchschnittliche Höhe von 6,5 Metern. Im Kosthause sind nur der große Speisesaal und die Waschstuben den Bewohnern zugänglich, da das Essen an Schaltern ausgegeben wird. Die innere Einrichtung einer Waschstube besteht aus einer Ofenheizung und 56 Waschbecken, die in die aus Eichenholz gefertigten Tische fest eingelassen sind und direct aus der Wasserleitung mit kaltem Wasser gespeist werden, während das zum Waschen erforderliche heiße Wasser aus der an der Rückwand liegenden Leitung entnommen wird. Die Ventilation wird in diesem Raume ebenfalls durch Aspirationsschachte, sowie durch, auf die Dächer aufgesetzte Laternenbewerkstelligt. Das heiße Wasser dient den Bewohnern gleichzeitig zu Kaffeebereitung. Die Entleerung der Waschbecken geschieht durch Umkippen der um zwei Zapfen drehbaren Becken. Zum Waschen der Füße dienen die unter der heißen Wasserleitung aufgestellten großen Tröge. Bäder mit Douchen können die Bewohner gegen geringfügige Bezahlung erhalten.

 

Der Speisesaal wird durch eine warme Wasserheizung bis auf 18° Reaumurerwärmt. Derselbe dient den Arbeitern als gemeinsamer Wohnraum und bietet – im Winter gleichmäßig erwärmt, im Sommer gut ventilirt -stets einen angenehmen und gesunden Aufenthalt. Diejenigen, welche außer den gewöhnlichen Mahlzeiten sich durch Speise oder Trank erfrischen wollen, haben hierzu Gelegenheit in der Restauration des Logirhauses. Im Speisesaale selbst wird außer den gemeinschaftlichen Mahlzeiten nichts verabreicht. Der Saal bietet außerdem noch dem gesammten Arbeiterstande des Bochumer Vereins Gelegenheit zur Abhaltung von gemeinsamen Festen, Bällen, Concerten, Vorträgen u. s. w. Während aller Mahlzeiten läßt ein im Speisesaal aufgestelltes Orchestrion seine Weisen erklingen, und macht es einen wohlthuenden Eindruck, dem geschäftigen Treiben während der Mittagsmahlzeit zuzusehen.

 

An den Speisesaal schließt sich unmittelbar die Kochküche mit ihren vielen Nebenräumen. Gekocht wird mittelst Dampfes. Die sich entwickelnden Wasserdämpfe der Kochküche wurden früher durch einen im Nebengebäude aufgestellten Exhaustor aufgesaugt; neuerdings ist dagegen jeder Kessel mit einem hermetisch schließenden Deckel versehen, welcher oben in ein, ineinander verschiebbares, die Dämpfe direct ins Freie führendes Rohr endet. Diese Einrichtung hat sich aufs beste bewährt, und wird das Personal der Küche nicht mehr von Wasserdampf und heruntertröpelndem Wasser belästigt.

 

Das Kost- und Logirhaus liefert unverheiratheten Arbeitern des Bochumer Vereins für den sehr gemäßigen Preis von 80 Pfg. im Winter und von 75 Pfg. im Sommer täglich Wohnung nebst einem guten Mittag- und Abendessen. Es sind dabei auf die Wohnung ohne Heizung 15 Pfg. per Tag und mit Heizung 20 Pfg., auf das Mittagessen 35 Pfg. und auf das Abendessen 25 Pfg. gerechnet.

Das Mittagessen besteht aus einer kräftigen Suppe, Gemüse und Fleisch, je nach der Jahreszeit; das Abendbrot aus warmen Kartoffeln mit Sauce und Braten oder einem anderen Stücke Fleisch. Die Portionen sind sehr reichlich, so daß, wie dies amtlich festgestellt ist, von einer Portion eine gesunde, kräftige Frau mit 3 Kindern unter 14 Jahren vollauf gesättigt wird. Außerdem kann aber ohne Mehrkosten von dem betreffenden Arbeiter etwas nachverlangt werden. Das während der Mahlzeiten im Speisesaal verabreichte Bier - ca. 1/3 Liter – wird zu 8 Pfg., im Restaurationslocale dagegen für 10 Pfg. verabfolgt. Brod und Kaffee sind in der Caserne zu Einkaufspreisen, außerdem aber heißes Kaffeewasser unentgeltlich zu haben. Der Speisezettel wird von 14 zu 14 Tagen erneuert.

Die Bettwäsche – incl. der Handtücher – wird für jeden Arbeiter, resp. für jede Lagerstätte unentgeltlich geliefert, wohingegen für die Leibwäsche Jeder selbst sorgen muß, wozu ihm für ein billiges Geld in der Nähe der Caserne in Waschanstalten ausreichende Gelegenheit gegeben ist.

Unter Aufsicht eines Vorarbeiters besorgen 17 Hausknechte die Reinigung der Zimmer, wozu auch das Aufmachen, resp. das Ordnen der einzelnen Lagerstätten gehört. Geheizt wird während der Zeit vom 1. November bis zum 30. April.

Zu dem Kost- und Logirhause gehört außerdem noch ein Nebengebäude, welches einen Raum für 3 Dampfkessel, ein geräumiges Waschhaus nebst anstoßender Trocken-, Mangel- und Plättstube enthält, ferner den Raum für den Desinfectionsapparat, welcher zeitweise auch zum Schnelltrocknen benutzt wird. In jedem Zimmer des Casernements befindet sich folgende

 

Hausordnung

A. Allgemeine Bestimmungen

1. Den Anordnungen des Verwalters, sowie der Wache hat jeder Bewohner unbedingt Folge zu geben.

2. Achtungswidriges oder gar widersetzliches Benehmen gegen den Verwalter hat auf Verlangen des Letzteren

die Ausweisung aus dem Logir- und Kosthause zur Folge.

3. Trunk- und Streitsüchtige werden im Logir- und Kosthause nicht geduldet.

4. Das Uebersteigen der Logir- und Kosthaus-Umzäumung wird mit 3 Mk. bestraft.

5. Die Bewahrung seines Privateigenthums ist jedem Bewohner anheimgestellt. Baares Geld nimmt der

Verwalter auf Verlangen in Verwahrsam.

6. Fremden ist der Zutritt zum Logir- und Kosthause nur mit Erlaubniß des Verwalters gestattet.

7. Zuwiderhandlungen gegen die Bestimmungen dieser Hausordnung werden mit einer Strafe von Mk. 0,50 bis

Mk. 1,50 belegt, soweit nicht eine andere Strafe ausgesprochen ist. Wer sich wiederholte Bestrafungen zu

Schulden kommen läßt, hat Ausweisung zu gewärtigen.

8. Etwaige Beschwerden sind bei der Direction anzubringen.

9. Bei einem Brande im Logir- und Kosthause, in der Colonie Stahlhausen, oder in der Gußstahlfabrik haben

sämmtliche Bewohner sich zum Löschen sofort zur Brandstätte zu begeben. Wer sich dieser Dienstleistung, die

unentgeltlich geschehen muß, entzieht, wird mit Mk. 1,50 bis Mk. 3,00 bestraft.

 

B. Stubenordnung

1. Den Bewohnern wird die größte Reinlichkeit zur Pflicht gemacht. Niemand darf sich mit schmutzigen

Kleidern in oder auf ein Bett legen. Mit Ungeziefer behaftete Personen werden aus dem Logir- und

Kosthause ausgewiesen, und haben dieselben für die Kosten der Reinigung des Bettzeuges 6 Mk. zu zahlen.

2. Das Rauchen im Bett wird bis zu 3 Mk. bestraft.

Es ist jedem Bewohner untersagt, in einem ihm nicht zugewiesenen Bette zu schlafen oder von einem solchen

die Kopfkissen, Decken ec. zu benutzen.

4. Das Beherbergen von Fremden ist untersagt.

5. Es darf kein Bewohner eine andere, als die ihm angewiesene Stube betreten.

Lärm, lärmende Unterhaltungen, Aufenthalt auf den Gängen, Fluren und Treppen, Singen, Pfeifen,

Musiciren,

insbesondere mittelst Mund- und Zieh-Harmonicas, sind gänzlich untersagt. Für die Nachtzeit nach 10 Uhr

wird dieses Verbot verschärft.

7. Aus dem Fenster darf nichts gegossen oder geworfen werden.

8. Es darf auf den Stuben Abends nach 10 Uhr kein Licht mehr brennen.

9. Jeder Bewohner hat sich bis 11 Uhr Abends auf der ihm zugewiesenen Stube einzufinden bei Strafe von 1 bis

3 Mk.

10. Wer am Eigenthum des Logir- und Kosthauses etwas beschädigt oder beschmutzt, hat den Schaden zu

ersetzen und außerdem eine Strafe von _ bis 3 Mk. zu entrichten. Nach Umständen muß die ganze

Stubenmannschaft dafür aufkommen.

11. Auf den Stuben darf weder gekocht noch gebraten werden. Zuwiderhandelnde werden mit 6 Mk. bestraft.

 

C. Menage

1. Jeder Bewohner muß an der Mittagsmahlzeit Theil nehmen.

2. Mittags werden die Speisen von 12 bis 2 Uhr, Abends von 7 bis 9 Uhr an den Schaltern verabfolgt. Nach dieser Zeit können keine Speisen mehr beansprucht werden.

3. Speisemarken werden Montag Mittags von 12 bis 1 Uhr für sieben auf einander folgende Tage, von Dienstag an gerechnet, ausgegeben. Jeder Arbeiter erhält nur eine Marke zu jeder Mahlzeit.

4. Es ist streng verboten, Eßnäpfe mit auf die Stuben zu nehmen.

5. Außer zum Empfänge der Speisen darf Niemand an den Schaltern verweilen. Verhandlungen mit dem Küchenpersonal sind ebensowohl, wie das Betreten der Küche verboten.

6. Die Anwesenheit im Speisesaale ist nur bis 10 Uhr Abends gestattet.

7. Wer eine Mittagsmarke verliert, hat für dieselbe

45 Pfg., wer eine Abendmarke verliert, hat 35 Pfg. zu entrichten.

8. Wer eine Mahlzeit versäumt, hat die dafür gültige Marke am folgenden Tage abzugeben.

9. Unerlaubte Empfangnahme von Speisen, gegen Marken, die für andere Tage bestimmt sind, oder Empfangnahme von 2 Portionen, wenn vor der Mahlzeit nur eine angemeldet ist, wird Mittags mit 3 Mk., Abends mit Mk. 1,50 bestraft.

10. Dem Verwalter ist jede Versetzung von einer Werkstatt in die andere mit der neuen Marken-Nummer innerhalb 24 Stunden anzumelden. Wird in Folge der Nichtanmeldung die Menageschuld in der Löhnung nicht eingehalten, so ist dieselbe sofort beim Verwalter zu entrichten; im Unterlassungsfalle werden die Betreffenden mit Mk. 1,50 bis Mk. 3,00 bestraft.

11. Wer in Folge Kündigung der Arbeit aus der Menage scheidet, hat solches 14 Tage vorher anzuzeigen. Diejenigen Leute, welche beurlaubt werden, haben für die Dauer des Urlaubs im Sommer Mk. 0,15, im Winter Mk. 0,20 pro Tag Miethe zu zahlen.

An Sonn- und Feiertagen wird Kaffeewasser nur Morgens von _8 bis _9 Uhr und Nachmittags von _3 bis

_ 4Uhr verabreicht.

Bochum, den 1. Mai 1883.

Bochumer Verein für Bergbau und Gußstahl-Fabrikation.

 

Außer der mehrerwähnten Arbeitercolonie Stahlhausen hat auch die in der Gemeinde Harpen belegene Zeche ”Prinz von Preußen” im städtischen Weichbilde, und zwar in der Nähe der Grenze desselben, eine Arbeitercolonie angelegt, die aus 22 Häusern, in welchen 106 Familien mit 774 Köpfen wohnen, besteht.

 

Auch für diese Arbeitercolonie ist die Lage eine durchaus gesunde. Die Wohnungen sind ähnlich wie beim Bochumer Verein in Stahlhausen eingerichtet, und auch hier wird ein durchaus mäßiger Miethsbetrag für jede Wohnung bezahlt.

Andere Arbeitgeber haben zwar auch Wohnhäuser für einen kleineren Theil ihrer Arbeiter errichtet; doch ist die Zahl dieser Häuser nur gering.

 

Die billigen Wohnungen liegen in der Stadt zerstreut; sie befinden sich entweder in der seit alter Zeit vom Proletariat der Stadt bewohnten Straßen und zwar hier in engen, baufälligen, 1-2 Stockwerk enthaltenden Häuschen, oder in den, im neuen Stadttheil erbauten größeren Häusern, auch in Miethscasernen, welche in 3 Stockwerken errichtet sind.

 

Nur in dem neuen Stadttheile sind diese Quartiere genügend mit Plätzen, die zum Theil auch zu öffentlichen Promenaden dienen, versehen. Im alten Stadttheile dagegen mangelt es gerade in der unmittelbaren Nähe der Arbeiterquartiere an diesen freien Plätzen und auch an Gärten. Außerhalb der Stadt sind Gärten in großer Zahl vorhanden, von welchen sich ein erheblicher Theil in der Benutzung von Arbeitern befindet, die an die Ver-miether in der Regel 40 Pfg. pro Quadrat-Ruthe an jährlicher Pacht bezahlen. Nur im neuen Stadttheile befinden sich in Privatnutzung unbebaute Gärten, die auch hier mit Vorliebe von den kleineren Leuten gemiethet werden.

 

Bei Aufstellung des Bebauungsplanes neuer Straßen ist insofern die Anlage billiger Wohnungen insbesondere berücksichtigt, als die Erbauer dieser Häuser an diesen neuen Straßen sich von vornherein sagen mußten, daß wegen der größeren Entfernung und oftmals auch bei der Abgelegenheit die errichteten Wohnungen nicht diejenige Miethe tragen konnten, welche in den besser gelegenen Stadttheilen ortsüblich in der Regel entrichtet wird. Die Wohnungsmiethen selbst in den Arbeiterquartieren sind verhältnismäßig und durch den Mangel an kleineren Quartieren sehr hoch. Eine Wohnung, bestehend aus einem einzigen Raume, wird hier in der Regel mit 75 Mk. jährlicher Miethe bezahlt. Eine Wohnung mit 2 Räumen kostet durchschnittlich jährlich 120 bis 150 Mk. Miethe und mit 3 Räumen 220 bis 230 Mk. Von billigen Wohnungen ist daher in der hiesigen Stadt wohl kaum die Rede, zumal die neuerbauten Häuser in dem neuen Stadttheile lediglich in Folge von Speculationen einzelner Personen errichtet sind, die die Errichtung in einer Zeit herbeigeführt haben, wo sowohl der Grund und Boden als auch die Arbeitsmaterialien enorm hoch im Preise standen, und die jetzt bei der Verwerthung ihrer Häuser sich möglichst schadlos zu halten suchen. In dem neuen Stadttheile kann man von ungesund belegenen Wohnungen wohl kaum sprechen; dahingegen giebt es Arbeiterquartiere in dem alten Stadttheile, die, abgesehen von ihrer Ueberfüllung, durchaus ungesund sowohl in Folge der Lage (enge, schmutzige Straßen), als auch in Folge ihrer geringen Höhe und schlechten Bauart und ebenso in Folge des Mangels an besonderen Einrichtungen (schlechte oder ungenügende Abtrittsanlagen) sind. Die seitens der Stadt angelegte Wasserleitung versorgt nun zwar die gesammten Häuser der Stadt mit dem erforderlichen Wasser; dennoch aber sind Klagen über einzelne Hauseigenthümer vorgekommen, welche zur Ersparung des Wassergeldes noch Brunnen benutzten oder von ihren Einwohnern benutzen ließen, die schlechtes Wasser enthielten. Dank dem energischen Vorgehen der Polizei ist das Schließen derartiger Brunnen angeordnet und sind auch hier die Anschlüsse an die Wasserleitung erfolgt.

 

Die für die hiesige Stadt geltenden baupolizeilichen Vorschriften, welche anordnen, daß neu herzustellende Wohnungen mindestens 2,82 Meter Lichthöhe haben müssen, sind durchaus geeignet, bessernd zu wirken und auch die Beseitigung der vorhandenen Mißstände, namentlich bei Umbauten oder sonstigen Reparaturen, herbeizuführen. Wohnungsstatistische Aufnahmen sind nur insofern vorhanden, als durch die Volkszählung von 1871 nachgewiesen wurde, daß in 1271 Wohnhäusern sich die Zahl der Haushaltungen auf 3906 belief und daß auf ein Wohnhaus 3,07 Haushaltungen und auf eine Haushaltung 5,12 Einwohner kamen. Das damalige Ergebniß über die Wohnungsverhältnisse ist in folgender Weise zusammengestellt [s. Anm. 38].

 

Bei der am 1. December 1885 erfolgten Volkszählung waren in 2290 Wohnhäusern 7607 Haushaltungen und in den 13 Anstalten 1274 Köpfe vorhanden, so daß durchschnittlich auf ein Grundstück 3,6 Haushaltungen mit 17,8 Köpfen zu berechnen sind. Andere wohnungsstatistische Aufnahmen sind bedauerlicherweise hier nicht vorhanden, so daß nicht angegeben werden kann, wie viele Wohnungen es mit einem nicht heizbaren und mit einem heizbaren Zimmer, mit einem heizbaren Zimmer und Küche, mit 2 heizbaren Zimmern u. s. w. in der Stadt giebt. Dagegen bestehen notorisch die Arbeiterwohnungen in der Stadt in der Regel aus 2 bis 3 heizbaren Räumen, von denen der eine Raum zugleich als Kochgelegenheit benutzt wird. Wohnungen, welche nur einen heizbaren Raum umfassen, sind nur in verschwindendem Maße vorhanden. Wohnungen unter der Erde giebt es im Stadtbezirke überhaupt nicht. Die Häuser sind bis zu fünf Stockwerk hoch erbaut; der Dachstock ist in vielen Fällen zu Wohnzwecken eingerichtet und benutzt. In den dichtbewohntesten Arbeiterquartieren des neuen Stadttheils wohnen in 6 Häusern 50 Familien mit 330 Köpfen.

Bei einer großen Zahl von kleineren Handwerkern (Schneidern, Schustern u. s. w.) werden die Wohnungsräume gleichzeitig zum Gewerbebetriebe mitbenutzt.

Die vorstehend geschilderten Verhältnisse haben denn nun auch zeitweise eine große Wohnungsnoth unter der Arbeiterbevölkerung eintreten lassen. So entstanden seit Anfang Februar 1883 der hiesigen Armen-Verwaltung bittere Verlegenheiten dadurch, daß hier ortsangehörige Familien obdachlos wurden, die trotz der eingehendsten Bemühungen kein anderweites Unterkommen fanden. Wenn diese Familien auch zum Theil an ihre Hauswirthe die vorher vereinbart gewesenen Miethsbeträge entrichtet hatten, und wenn einzelne derselben sich sogar verpflichteten, die Miethen für kleinere Zeiträume praenumerando zu erlegen, so war es dennoch nicht möglich, Privatquartiere für diese Familien zu erlangen. Die Armen-Verwaltung, deren Hülfe in Anspruch genommen wurde, hat, nachdem die unausgesetzten eigenen Bemühungen der Obdachlosen ohne Erfolg blieben, sich die größte und erdenklichste Mühe gegeben, um Privatquartiere in der Stadt und Umgegend zu erlangen. Es wurden indessen Resultate nicht erzielt, weil durch den von außerhalb erfolgten Zugang alle Wohnungen in der Stadt besetzt waren und weil, wie amtliche Recherchen constatirten, absolut ein Mangel an Wohnungen für die Arbeiterbevölkerung in der hiesigen Stadt vorhanden war.

 

Dabei mußte leider zugegeben werden, daß die obdachlos gewordenen Familien in allen Beziehungen total heruntergekommen waren und aus Personen bestanden, die zum Auswurf der Menschheit gehören und die kein Hauswirth, selbst wenn wirklich leere Wohnungsräume zu seiner Verfügung gestanden haben würden, gern aufgenommen hätte. Zu einer Zeit, wo es an Wohnungen mangelt, hat der Hauseigenthümer, der im Allgemeinen bei der Wohnungsnoth noch die Miethe steigerte, sich seine Miether aussuchen können. Er wird, wie ihm das kaum zu verdenken ist, nur an solche Personen vermiethen, die ein vorwurfsfreies Leben geführt und einen guten Ruf haben und die nicht bloß deshalb, sondern auch wegen ihrer guten häuslichen Einrichtungen die erforderliche Garantie zur pünktlichen Entrichtung der Miethe darbieten.

 

Der Armen-Verwaltung selbst standen disponible Räume zur Unterbringung dieser obdachlos gewordenen Familien nicht zur Verfügung. Sie hat deshalb dieselben allabendlich in die der Polizei zur Disposition stehenden Observationsräume dirigirt.

 

Jeden Abend um 9 Uhr meldeten sich jene Familien zur Unterbringung auf der Polizeiwache, von welcher sie am nächsten Morgen um 5 oder 8 Uhr sich wieder entfernten. Dieser Nothbehelf konnte aber nur kurze Zeit zur Durchführung gebracht werden, weil die Zahl der Obdachlosen sich vermehrte und die polizeiliche Unterbringung in der angeführten Art überhaupt nicht dauernd sein konnte. Da nun alle Mittel und Wege zur Unterbringung der Obdachlosen erschöpft waren, so wurde mit Zustimmung der städtischen Behörden ein außerhalb der Stadt belegenes Reservelazareth, in welchem nur beim Ausbruch von Epidemien isolirt zu haltende Kranke Aufnahme finden sollten, zur Unterbringung jener Familien hergerichtet. In diesem Reservelazareth befanden sich nur zwei große Säle, in welche die obdachlosen Familien aufgenommen werden konnten, und in welchen sich feste Trennungswände für die einzelnen Familien nicht befanden. Es durfte daher schon aus Sittlichkeitsrücksichten den Männern nicht gestattet werden, während der Nächte sich in denselben Räumen bei ihren Familien aufzuhalten. Dieselben wurden vielmehr während der Nächte in entfernt belegenen polizeilichen Localitäten besonders untergebracht. Daß bei dem Zusammenwohnen so vieler Familien in einem Raume schlechte Beispiele für die zahlreich vorhandenen Kinder unausgesetzt vorhanden waren, liegt wohl auf der Hand, und es mußte daher die Armen-Verwaltung bestrebt sein, so bald wie möglich eine Beseitigung auch dieses Nothbehelfs herbeizuführen. Es war ja inzwischen constatirt, daß die Noth wegen Unterbringung obdachloser Familien schon seit Monaten angehalten hatte, und daß dieselbe nicht etwa als vorübergehend anzunehmen war. Seitens der städtischen Behörden mußten daher Anordnungen getroffen werden, daß in irgend einer anderen Weise für die Unterbringung jener Familien Sorge getragen wurde. In dieser Weise hatten in dem Reservelazareth 30 Familien mit 27 Männern, 30 Frauen und 98 Kindern Obdach gefunden. Es ist dann auch im Sommer des Jahres 1884 die Errichtung einer Baracke seitens der städtischen Behörden beschlossen worden. Dieselbe ist zunächst zur Unterbringung von 16 Familien eingerichtet. Sie ist an einem unbebauten Seitenwege außerhalb der Stadt in Steinfachwerk unter Filzbedachung erbaut worden und besteht aus:

 

 

1. 16 Räumen, jeder zur Aufnahme einer obdachlosen Familie bestimmt,

 

2. zwei Küchenräumen, jeder zur Benutzung für 8 Familien in Aussicht genommen,

 

3. vier Räumen für den die Baracke beaufsichtigenden Beamten,

 

 

zwei überdachten, an den Langseiten offenen Fluren, an welchen die Eingänge zu den einzelnen Räumen der Obdachlosen, des beaufsichtigenden Beamten und der Küchenräume liegen.

 

Die zur Aufnahme der obdachlosen Familien bestimmten Räume sind 3,75 m lang, 4,50 m breit und 2,82 m in medio hoch. Jeder Raum hat eine, auf den ad 4 genannten Flur mündende, 1 m breite, 2 m hohe einfache Brettertür und 1 Fenster, 1 m breit und 1,40 m hoch, mit gußeisernen Rahmen und einem 0,5 m großen Lüftungsflügel. Die Räume sind mit Ziegelsteinen auf hoher Kante geptlastert, die Wände sind ausgemauert (ohne Verputz) und mehrere Male geweißt. Die Decke wird von der, aus rauhen Tannenbrettern hergestellten

Dachschalung gebildet. Je 4 Räume haben ein, 0,25 m im Quadrat im Lichten weites Rauchrohr, und ist zur Aufstellung eines Ofens eine Rohrhülse nach jedem Raume hin eingemauert.

Die aus Küche und 3 Zimmern bestehende Wohnung des beaufsichtigenden Beamten ist im Innern glatt geputzt und mit Spalierdecken versehen; die Dielung ist in der Küche aus Ziegelpflaster, in den Zimmern aus Tannenbrettern hergestellt. Auch ein Kellerraum ist vorhanden.

Die Küchenräume sind je 6,62 m lang und 5,0 m breit, im Innern berappt und überweißt und enthalten jeder 2 gemauerte Heerde mit gußeisernen Platten. Jede Platte ist mit 4 Löchern versehen. Jeder Familie wird ein Loch auf einem Heerde zur Benutzung überwiesen.

Hinter dem Barackengebäude ist ein Abort aufgestellt, welcher aus 2 Abtheilungen, einer für Männer, einer für Frauen und Kinder, besteht.

Die Wasserzuführung geschieht aus der städtischen Wasserleitung, welche ein 1 cbm enthaltendes Bassin mit Schwimmkugelverschluß speist. Auf dem Bassin steht eine kleine Pumpe, deren sich die Barackenbewohner zur Wasserentnahme bedienen müssen. Auf diese Weise wird directes Zapfen vermieden und einer Wasservergeudung vergebeugt.

Die ganze Anlage hat einen Kostenaufwand von ca. 9000 Mk. verursacht.

Leider stellte es sich nach Fertigstellung und Belegung dieser Baracke heraus, daß dieselbe die Zahl der nach und nach obdachlos gewordenen Familien nicht sämmtlich aufnehmen konnte, und es ist daher im vergangenen Jahre eine zweite, noch geräumigere Baracke in ähnlicher Weise, wie die zuerst beschriebene, erbaut worden, so daß beide Baracken 42 Familien aufnehmen können. Zur Zeit befinden sich daselbst außer der Familie des auf-sichtführenden Beamten 29 Familien mit 156 Köpfen. Der aufsichtführende Beamte ist zur Aufrechterhaltung der Ordnung, Reinlichkeit und Sitte für diese Baracken dringend nothwendig. Es kann die Aufsicht überhaupt nur einem Beamten übertragen werden, der einerseits durch Umsicht und Energie, andererseits aber auch durch Wohlwollen und Humanität sich auszeichnet. Es hat der zuerst dort angestellt gewesene Beamte wieder entfernt werden müssen, weil ihm, wie sich sehr bald herausstellte, diese dringend nothwendigen Eigenschaften abgingen und er sogar vor den leidenschaftlichen Ausbrüchen der Familienhäupter der Barackenbewohner Furcht zeigte. Seit einigen Monaten mußte daher ein Wechsel eintreten, und ist zur Aufsicht eine Kraft gewonnen, die allen bezüglichen Anforderungen entspricht und der es möglich ist, Zucht und Ordnung aufrecht zu erhalten. Für die Bewohner der Baracken ist seitens des hiesigen Magistrats die nachstehende Hausordnung festgesetzt worden:

 

 

 

Hausordnung

für die in dem Asyle für Obdachlose zu Bochum

befindlichen Personen.

 

§ 1.

Die Aufnahme in das Asyl für Obdachlose hat nur den Zweck, vorübergehend und bis zu einem bestimmten Zeitpunkte nothdürftes Obdach zu gewähren.

 

§ 2.

Für die Dauer der Aufnahme ist eine Vergütung von 1 Mk. pro Woche pünktlich zu bezahlen. Wer damit im Rückstande bleibt, hat im städtischen Dienste Arbeiten zu verrichten. Die Arbeitsleistung wird mit 1 Mk. 50 Pfg. pro Tag berechnet und diese Vergütung lediglich auf den rückständigen Miethsbetrag verwendet.

Wer sich dieser Arbeitsleistung zur Deckung der für das gewährte Obdach zu leistenden Vergütung aus Arbeitsscheu weigert, hat nach § 361 ad 7 des Straf-Gesetz-Buches Bestrafung zu gewärtigen.

 

§ 3.

Die Aufnahme gewährt nur das Recht auf ordnungsmäßige Benutzung der in jedem einzelnen Falle durch den bestellten Haus-Aufseher anzuweisenden Räume, und muß der Aufgenommene es sich gefallen lassen, daß auch anderen Personen nach Ermessen der Verwaltung des Armenwesens die Mitbenutzung der angewiesenen Räume überlassen wird.

 

§ 4.

Ebenso müssen es sich die aufgenommenen Familien gefallen lassen, daß erforderlichenfalls einzelne Familienglieder getrennt bei anderen Hausbewohnern untergebracht werden.

 

§ 5.

Jeder Aufgenommene ist verpflichtet, das ihm überwiesene Obdach sauber und rein zu halten und täglich zu lüften. Dasselbe muß mindestens wöchentlich einmal geschruppt, die Thüren und Fenster aber müssen wöchentlich abgewaschen werden.

Die gemeinschaftliche Kochgelegenheit und der gemeinschaftliche Abort müssen allwöchentlich, der Reihe nach, nach den besonderen Weisungen des Haus-Aufsehers, geschruppt werden.

 

§ 6.

Jeder Aufgenommene ist verpflichtet, Beschädigungen oder Verunreinigungen des ihm überwiesenen Obdaches, der gemeinschaftlichen Kochgelegenheit, des Abortes und der Wasserzuführung zu verhüten, und muß, wenn er von anderen Mitbewohnern des Asyls derartige Wahrnehmungen machen sollte, sofort dem Haus-Aufseher Anzeige machen.

 

§ 7.

Den Weisungen des Haus-Aufsehers ist unbedingt und unweigerlich Folge zu leisten.

Wer Ordnungswidrigkeiten, Störungen des Hausfriedens oder anderen derartigen Unfug verübt, hat, unbeschadet etwa verwirkter Strafen, sofortige Ausweisung zu erwarten und, wenn solche verfügt wird, überall keine Ansprüche auf irgend welche Entschädigung.

 

Bochum, den 8. September 1884.

Der Magistrat.

 

 

Die im § 2 vorgesehene Miethe muß allwöchentlich pünktlich abgeführt werden. Bleibt der Barackenbewohner damit im Rückstande und ist dieser Rückstand durch Arbeitsscheu entstanden, so wird er sofort zur Leistung der entsprechenden Arbeit angehalten, für welche er die in jenem Paragraphen angeführte Vergütung erhält, die demnächst auf die Miethe angerechnet wird. Durch den Bau dieser Baracken ist die vorhanden gewesene große Wohungsnoth zwar augenblicklich in etwa beseitigt; es darf aber nicht verkannt werden, daß bei der fortgesetzten Zunahme des Zuzugs die Angelegenheit keineswegs dauernd erledigt ist und daß sich die städtischen Behörden daher nothgedrungen werden entschließen müssen, zur nachhaltigen Abwendung ähnlicher Calamitäten anderweitige endgültige Maßregeln zu treffen, auf welche später zurückgekommen werden soll

 

Außer der angeführten Wohnungsnoth sind sodann nicht bloß in der hiesigen Stadt, sondern auch in den benachbarten Industriebezirken von Westfalen und Rheinland dadurch sehr erhebliche Uebelstände hervorgerufen worden, daß seit Jahren die Aufnahme von unverheiratheten Fabrik- und Bergarbeitern in Familien erfolgt ist, von welchen dieselben Kost und Logis gegen ein mäßiges Entgelt erhalten. Es ist dadurch ein Zustand entstanden, der in sittlicher Hinsicht zu den allergrößten Bedenken Veranlassung giebt und der, soll nicht eine gänzliche Verrohung und Verwilderung eintreten, mit allen nur irgendwie zulässigen gesetzlichen Mitteln beseitigt werden muß.

 

Jene Klassen der bezeichneten Arbeiter nehmen bei verheiratheten Mitarbeitern, die in der Regel auf derselben Arbeitsstätte beschäftigt werden, ihren Aufenthalt, der in der Weise hergerichtet wird, daß sie in denselben beschränkten Räumen, in welchen die Familien wohnen, ihre Schlafstätten erhalten und entweder an den Mahlzeiten der Familie gegen ein vereinbartes Kostgeld theilnehmen, oder aber ihre Lebensmittel selbst einkaufen und von der Frau des Schlafwirthes gegen mäßige Entschädigung zubereiten lassen. Auf den indu-striellen Werken werden die Arbeiten abwechselnd, in Tages- und Nachtschichten verrichtet, und es ist fast zur Regel geworden, daß, während der verheirathete Arbeiter außerhalb seiner Wohnung im Schweiße seines Angesichts den Unterhalt für sich und seine oft zahlreiche Familie erwirbt, der in Kost und Logis aufgenommene unverheirathete Mitarbeiter sich zu Hause bei der Familie befindet. Hier kommt es vor, daß er die Abwesenheit des Familienhauptes benutzt, das Weib seines Kost- und Logirwirthes, sowie die unmündigen Töchter desselben verführt und dadurch namensloses Unglück über die Familie bringt. Abgesehen davon, daß dadurch eine voll-ständige Demoralisation in einer solchen Familie eintreten muß, müssen oftmals Kinder des zartesten Alters Zeugen der Verworfenheit und Schande der eigenen Mutter sein; sie werden dadurch unwillkürlich zu geschlechtlichen Ausschweifungen sich verirren und in sittlicher Hinsicht verkommen oder früher oder später daran zu Grunde gehen.

 

Das verführte und entehrte Weib ist oft so schamlos und entartet geworden, daß es, wie es leider des öfteren vorgekommen, zur Kupplerin an den eigenen Kindern wird und unerfahrene, aus fremden Gegenden zugezogene jugendliche Arbeiter, die da glaubten, das verlassene Elternhaus in der Fremde ersetzt zu erhalten, zur Sittenlosigkeit und Unzucht systematisch verführt und förmlich anleitet.

 

Der betrogene Ehegatte sucht sich über den Verlust des Hauptfundaments jeder christlichen Ehe, der ehelichen Treue, durch die Branntweinflasche zu trösten. Er vernachlässigt seine Arbeit, sorgt nicht mehr in ausreichendem Maße für seine Familie und wird, abgestumpft und gleichgültig für seine verlorene Ehre, vom Trunke zum Müßiggange kommen und, wenn er anfänglich auch noch aus Furcht vor Strafe vor Verbrechen zurück-schrecken wird, dennoch von Stufe zu Stufe sinken und schließlich mit seiner Familie, die sich durch das ehebrecherische Leben seiner Frau möglicherweise noch vermehrt hat, der öffentlichen Fürsorge anheimfallen. Durch dieses sogenannte Kostgängerwesen, welches, jemehr die Industrie zugenommen, desto weiter sich als eine wahre Seuche verbreitet hat, sind außer dem Ruin zahlreicher Familien Verbrechen der mannigfachsten Art, sogar Mord und Todtschlag, vorgekommen.

Zur Beseitigung dieses Uebels ist deshalb von den Königlichen Regierungen zu Arnsberg und Düsseldorf eine übereinstimmende Polizei-Verordnung erlassen worden. [...]

 

War diese Verordnung anfänglich im Regierungsbezirk Arnsberg auch nur für die Stadtkreise Dortmund und Bochum, sowie für die Landkreise Dortmund, Bochum und Hagen erlassen, so ist unterm 6. Juni 1884 die Ausdehnung derselben auf den ganzen Regierungsbezirk erfolgt.

Wenn auch den Verwaltungsbehörden für diese Maßregel der Dank und die Anerkennung nicht versagt werden kann, weil durch gewissenhafte Ueberwachung der Ausführung jener Polizeiverordnung manches Uebel im Keime erstickt werden wird, und wenn auch durch das energische Vorgehen der Polizeibehörden die Mißstände, welche durch das Kost- und Quartiergängerwesen in schreckenerregender Weise vorhanden waren, sich erheblich verminderten, so möchte sich doch empfehlen, daß die betreffenden Behörden das Halten von Kostgängern von der sittlichen Qualification der betreffenden Haushaltungsvorstände abhängig machten und daß Wittwen nur gestattet würde, Personen weiblichen Geschlechts in Kost und Schlafstelle aufzunehmen.

Wenn derartige Zustände, wie sie eben geschildert wurden, thatsächlich vorhanden sind, so muß es als ein Segen und als eine Wohlthat betrachtet werden, daß der Bochumer Verein sein Kost- und Logirhaus für unverheirathete Arbeiter eingerichtet hat, und es würde ein noch größerer Segen entstehen, wenn die Besitzer von Berg- und Hüttenwerken sich zu ähnlichen Maßregeln entschließen möchten.

Es kann nicht verkannt werden, daß durch das Kost- und Quartiergängerwesen die Wohnungsnoth in der hiesigen Stadt noch größer geworden ist.

Wenn nun auch Ermittelungen über den Kubikinhalt einzelner überfüllter Wohnungen hierorts nicht angestellt sind, so ist doch durch wiederholte amtliche Recherchen festgestellt, daß durch das Vorhandensein der vielen Familienglieder viele Wohnungen total überfüllt sind. Dahingegen entstehen Nachtheile aus zu großen Entfernungen von Wohnungen zu der Arbeitsstätte nicht; sie erfordern nur ein Zusetzen zu der gewöhnlichen Arbeitszeit durch den Gang zur Arbeitsstätte und durch die Zurückkehr von der Arbeit in die einzelnen Wohnungen.

Eine Miethsteuer besteht in Bochum nicht. Aufnahmen über Miethspreise sind gleichfalls nicht vorhanden. Dagegen kann nicht geleugnet werden, daß bei der Höhe der Miethspreise gerade für die Arbeiterquartiere eine große Zahl von Familien vorhanden ist, die mehr als ein Fünftel des Einkommens lediglich für Miethe aufzuwenden hat. Leerstehende Arbeiterwohnungen sind in der Stadt nicht vorhanden. Wohnungen, die ein ganzes Haus einnehmen, giebt es nur bei den wohlhabenden Einwohnern; es sind im Ganzen 274 derartige Wohnungen hier vorhanden.

Die Ursachen der Wohnungsnoth in Bochum sind durch die vorstehenden Verhältnisse geschildert. In Folge von Straßendurchbrüchen oder sonstigen öffentlichen Anlagen oder Umbauten zu Privatzwecken sind kleinere Wohnungen in den letzten Jahren nicht beseitigt worden.

Die Dauer der Miethsverträge ist in der Regel von einer, beiden Theilen zustehenden dreimonatlichen Kündigung abhängig gemacht, welche indessen so erfolgen soll, daß die Miethszeit entweder mit dem 1. Mai oder 1. November jedes Jahres endigt. In welcher Weise hier die Miethsverträge abgeschlossen werden, ergiebt sich aus dem nachfolgenden, durchaus interessanten Inhalt eines bezüglichen Entwurfs, welchen der Verein der Grund- und Gebäudebesitzer hiesiger Stadt gefertigt hat, und welcher namentlich von Seiten der Vermiether in der Regel in der strictesten Weise festgehalten wird. Dieser Vertrag, der in gedruckten Exemplaren vorhanden ist, lautet, wie folgt:

 

 

 

Miethsvertrag

[Vertragspartner und Vertragsgegenstand]

 

§ 2.

Die Dauer dieses Vertrages wird von einer, beiden Theilen zustehenden dreimonatlichen Kündigung abhängig gemacht, welche jedoch so erfolgen muß, daß die Miethszeit mit dem 1. Mai oder 1. November endigt.

 

 

§ 3.

Die Wohnungsräume werden in einem bewohnbaren Zustande, Beschuß, Thüren, Anstrich, Fensterscheiben und Schlösser in guter Beschaffenheit übergeben und müssen vom Miether stets in diesem Zustande erhalten werden. Für alle Beschädigungen sowohl an den gemietheten Räumen wie am Hause überhaupt, welche durch Schuld des Miethers oder der zu seinem Hausstande gehörigen Personen entstehen, ist der Miether verantwortlich.

 

 

§ 4.

Das Aufstellen oder Lagern von Gegenständen auf den Fluren und Gängen, sowie auf dem Trottoir ist dem Miether nicht gestattet. Abänderungen in der baulichen Beschaffenheit der Wohnung oder deren Benutzung dürfen nur mit Zustimmung des Vermiethers erfolgen; Miether kann jedoch für etwaige Verbesserungen weder eine Vergütung beanspruchen, noch darf er dieselben bei Aufgabe der Wohnung wieder beseitigen.

 

 

§ 5.

Der Miether hat die gemietheten Räume, sowie die Treppen und Gänge durch Kehren und Schrubben stets rein zu halten; auch liegt ihm die vorgeschriebene Straßenreinigung ob. Bezüglich der von mehreren Miethern gemeinschaftlich benutzten Treppen ec. stellt Vermiether die antheilige Verpflichtung der Einzelnen zur Reinigung fest. Das Schrubben darf nur mittelst eines nassen Tuches oder einer nassen Bürste bewirkt und hierbei kein Wasser auf den Boden ausgegossen werden.

 

 

§ 6.

Miether darf weder Flüssigkeiten aus dem Fenster oder in den Abort gießen, noch Küchenabfälle, Kehricht, Asche u. dergl. in den letzteren bringen oder auf dem Hofe ablagern, hat vielmehr für deren Wegschaffung, insoweit städtischerseits keine Abfuhr erfolgt, selbst Sorge zu tragen.

 

 

§ 7.

Dem Miether steht die Mitbenutzung der Wasserleitung nach Maßgabe des mit der Stadt bestehenden Vertrages für den häuslichen Bedarf zu; doch kann derselbe eine Entschädigung oder Miethsnachlaß für zeitweiliges Fehlen des Wassers in Folge Beschädigung oder Reparatur der Wasserleitung nicht beanspruchen.

 

 

§ 8.

Miether ist verpflichtet, von vorkommenden Beschädigungen der Wasserleitung, des Daches oder sonstigen die Gebäude schädigenden Vorkommnissen dem Vermiether unverzüglich Anzeige zu machen, widrigenfalls er für allen hieraus entstehenden Schaden verantwortlich ist.

 

 

§ 9.

Die auf das Haus fallenden Steuern und öffentlichen Lasten, sowie die Kosten des für den häuslichen Bedarf erforderlichen Wassers trägt der Vermiether; dagegen hat Miether die Kosten der Entleerung der Aborte und der Schornsteinreinigung nach der vom Vermiether zu bewirkenden Vertheilung antheilig zu bezahlen.

 

 

§ 10.

Dem Miether ist es ohne ausdrückliche Zustimmung des Vermiethers nicht gestattet, unterzuvermiethen oder nicht zu seinem Hausstande gehörige Personen aufzunehmen.

 

 

§ 11.

Vermiether hat das Recht, sich persönlich oder durch einen damit Beauftragten von dem Zustande der Wohnung durch Betretung und Verweilung in derselben jederzeit Kenntniß zu verschaffen.

 

 

§ 12.

Bei nicht pünktlicher Zahlung der Miethe oder Nichtinnehaltung der sonstigen, dem Miether auferlegten Verpflichtungen, ferner bei Störung der häuslichen Ruhe und Ordnung oder Unverträglichkeit des Miethers oder der zu seinem Hausstand gehörigen Personen mit den übrigen Hausbewohnern, ist Vermiether berechtigt, gegenwärtigen Vertrag jederzeit ohne Kündigung aufzuheben und die sofortige Räumung zu verlangen, ohne daß dem Miether dieserhalb Anspruch auf Entschädigung oder Miethnachlaß zustände.

 

§ 13.

Vermiehter macht hiermit sein Zurückbehaltungsrecht an die vom Miether einzubringenden beweglichen Sachen für jeden Fall geltend, wo Miether ohne dessen Wissen und Willen und ohne vorherige Zahlung der Miethe oder sonstige Erfüllung der ihm nach diesem Vertrag obliegenden Verpflichtungen ausziehen, oder die Miethwohnung räumen möchte, so daß Miether sich bei Nichtbeachtung dieses Zurückbehaltungsrechtes in einem solchen Falle des strafbaren Eigennutzes im Sinne des § 289 des Straf-Gesetz-Buches schuldig machen würde.

 

§14.

Miether hat vor der Besitznahme der gemietheten Wohnung den Nachweis zu liefern, daß er die Miethe für die vorher innegehabte Wohnung bis zu seinem Auszuge bezahlt habe, widrigenfalls Vermiether berechtigt ist, vom gegenwärtigen Vertrage zurückzutreten.

 

§ 15.

Miether verpflichtet sich, die polizeiliche Meldung seines Umzuges rechtzeitig zu bewirken, widrigenfalls er die den Vermiether wegen Unterlassung dieser Meldung etwa treffende Polizeistrafe zu tragen hat.

Bochum, den......188.

Miether erkennt an, daß ihm die gemiethete Wohnung heute in vertragsmäßigem Zustande übergeben worden, und erklärt ausdrücklich, daß alle von ihm eingebrachten Sachen sein Eigentum sind.

Bochum,den.......188.

 

 

Bei den rigorosen Bestimmungen eines solchen Miethsvertrages ist es dem Vermiether sehr oft ein Leichtes gewesen, sich seines Miethers zu entledigen und selbst bei pünktlicher Miethbezahlung die Exmission des Miethers herbeizuführen. Die Zahl der Exmissionen” betrug in den Jahren 1883 bis 1885 in hiesiger Stadt ca. 75, und hat in den meisten Fällen die öffentliche Fürsorge für die obdachlos gewordenen Familien eintreten müssen. Aftervermiethungen finden außer den oben angeführten Kostgängeraufnahmen wenig oder gar nicht statt, weil die Hauseigenthümer dieselben bei Vermeidung der Aufhebung des Miethsvertrages nicht dulden. In den Jahren 1883 bis 1885 haben als obdachlos im Wege der öffentlichen Fürsorge 47 Familien untergebracht werden müssen.

Die Arbeitslöhne sind je nach der Beschäftigung der Arbeiter sehr verschieden. Sie variiren hier bei den Bergwerken von 1 Mk. 50 Pfg. bis zu 5 Mk. und darüber pro Tag. Bei den Hüttenwerken sind die Löhne durchschnittlich noch höher. Diejenigen Familien, die nicht den Vorzug genießen, sich in den von den Arbeitgebern errichteten Wohnungen zu befinden, müssen im Verhältniß zu dem verdienten Arbeitslohne trotz der Höhe desselben verhältnismäßig einen erheblichen Miethsbetrag entrichten, und muß zugegeben werden, daß die Höhe des Miethsbetrages sich nicht im richtigen Verhältniß zum Arbeitslohne befindet. Nach dem Gesetze vom 12. Mai 1873 über Gewährung von Wohnungsgeldzuschüssen gehört die hiesige Stadt zur 2. Servis-Klasse.

Die nach diesem Gesetz gewährten Wohnungsgeldzuschüsse sind nicht derartige, daß für dieselben angemessene Wohnungen für die betreffenden Beamtenkategorien zu erhalten sind. Es können diese Zuschüsse nur als eine, oftmals nur geringe Beihülfe zur Erlangung geeigneter Wohnräume bezeichnet werden, und ist daher auch seitens der städtischen Behörden jetzt beim Reichstage petitionirt worden, die hiesige Stadt in die 1. Klasse zu lociren. Eine ähnliche Petition ist von den zahlreichen Beamten der hiesigen Stadt an den Reichstag abgeschickt worden.

 

Was nun die Mittel gegen die Wohnungsnoth anlangt, so muß zunächst constatirt werden, daß seitens des Staates materiell in keiner Weise irgend etwas gethan ist. Dagegen hat die hiesige Stadt Opfer auf Opfer gebracht, so daß dieselben im Ganzen als sehr erhebliche bezeichnet werden müssen. Alljährlich werden ganz bedeutende Miethsbeihülfen an arme Familien, namentlich des Arbeiterstandes, zur Bezahlung ihrer Miethsrückstände u. s. w. aus der Armenkasse gezahlt. Beispielsweise wurden im Jahre 1885 allein zu dem Zwecke 9356 Mk. gewährt.

 

Die Stadt hat ferner, wie bereits oben angeführt, die betreffenden Baracken zur Aufnahme obdachlos gewordener Familien gebaut, Canalisation und Wasserleitung anlegen und durchführen lassen und außerdem im Jahre 1876 von städtischen Ländereien auf einer 56 Morgen großen Fläche einen Stadtgarten mit Park im unmittelbaren Anschluß an die Stadt einrichten lassen, in welchem sich die arbeitende Klasse zu jeder Tageszeit nach des Tages Last und Mühe erholen kann, ohne daß seitens der betreffenden Besucher dieses Stadtparks auch nur die allergeringste Entschädigung zu leisten ist. Es wird dieser öffentliche Garten nicht blos von den besser situirten Ständen benutzt, sondern es ergehen sich tagaus tagein die oft zahlreichen Glieder der Arbeiterfamilien in demselben.

 

Und gerade dadurch, daß die verschiedenartigsten Stände in diesem öffentlichen Stadtparke sich aufhalten und bewegen können, wird der Verrohung und Verwilderung moralisch verkommener Personen ein entsprechender Damm und eine Schranke gesetzt, die in Betreff der moralischen Verbesserung, nur wohlthätig wirken kann. Gute Beispiele erzeugen gute Sitten. In dem Stadtpark ist gleichzeitig eine Restauration eingerichtet, in welcher gutes Bier für einen mäßigen Preis feilgehalten wird, und in welcher ab und zu sogenannte Volksconcerte für ein sehr mäßiges Eintrittsgeld abgehalten werden. Aber selbst diejenigen Personen der ärmeren Volksklasse, welchen dieses Eintrittsgeld schwer fällt, aber welche sich die Wohlthat eines guten Glases Bier nicht leisten mögen, können die Musik auch während ihrer Spaziergänge im Parke, ohne daß sie irgendwie Auslagen für Verzehr etc. haben, genießen, weil an den verschiedensten Stellen des Stadtparks Wasserkrähne angebracht sind, die mit einer Tasse von Zinn versehen und Allen leicht und bequem zugänglich sind, so daß etwaiger Durst gelöscht werden kann. Die ganze Stadtparkeinrichtung, incl. Grund und Boden, hat einen Werth von 230 000 Mk. Die jährliche Unterhaltung der Anlagen erfordert eine Summe von pp. 14000 Mk.

 

Ueber die Leistungen einzelner Unternehmer zu Gunsten ihrer Arbeiter ist bereits oben das Weitere auseinandergesetzt. Dagegen muß als bedauerlich hervorgehoben werden, daß solche gemeinnützige oder wohlthätige Vereine in hiesiger Stadt nicht bestehen, welche für die Beschaffung guter und billiger Wohnungen eingetreten wären.

Als die Wohnungsnoth in den Jahren 1883 und 1884 in so hervorragendem Maße in unserer Stadt eintrat, ist von der hiesigen Verwaltung eine Umschau bei größeren und solchen Städten gehalten, in welchen die Arbeiterbevölkerung zahlreich vertreten ist. [...]

 

Maßregeln zur Verhütung, resp. zur Beseitigung der Wohnungsnoth lassen sich ja nun in mehrfacher Weise herbeiführen.

Nach Analogie der noch heute in Kraft bestehenden Bestimmung des § 1 des 19. Titels II. Theils des Allgemeinen Landrechts, welche wörtlich lautet: ”Dem Staate kommt es zu, für die Ernährung und Verpflegung derjenigen Bürger zu sorgen, die sich ihren Unterhalt nicht selbst verschaffen und denselben auch von anderen Privatpersonen, welche nach besonderen Gesetzen dazu verpflichtet sind, nicht erhalten können”, könnte man folgern, daß in erster Reihe der Staat die Verpflichtung hätte, auch in Betreff der Unterbringung von Personen fürsorgend einschreiten zu müssen. Da aber die Anforderungen an den Staat nach allen Richtungen hin derartig gesteigerte sind, daß entweder neue Steuerquellen aufgefunden werden müßten, oder die bisherige Besteuerung seiner Einwohner erheblich zu steigern wäre, so wird man gut thun, auf den Staat in dieser Beziehung nicht weiter zu recurriren. Es würde, wie ja dies auch durch § 10 ibid. und durch § 1 des Ausführungsgesetzes über den Unterstützungswohnsitz vom 8. März 1871 angeordnet ist, in dieser Beziehung vielmehr auf die einzelnen Gemeinden überzugehen sein und diesen die Verpflichtung auferlegt werden müssen, derartige Uebelstände zu verhüten, oder, falls sie bereits vorhanden sind, zu beseitigen. Die Commune Spandau ist bereits mit einem rühmlichen Beispiele vorangegangen, und das, was die Königlichen Bergbehörden zu Könighütte in Oberschle-sien und zu Saarbrücken in der Rheinprovinz oder auch der Bochumer Verein für Bergbau und Guß-stahlfabrication in der hiesigen Stadt für ihre Arbeiter in so hervorragender Weise gethan haben, würde eben so gut auf die Schultern einer Commune zu legen sein. Besitzt eine solche Commune, wie das sehr oft der Fall ist, selbst Ländereien, so würde die Lösung dieser Frage nicht so besonders schwierig sein. Es würde dann nach den bereits geschilderten Vorgängen Land zu mäßigen Preisen und unter der ausdrücklichen Bedingung, daß in jedem zu erbauenden Hause eine bestimmte Zahl von Wohnungen für Arbeiterfamilien herzustellen wäre, und unter sonstigen, die Aufnahme von Arbeiterfamilien sichernden Verpflichtungen an Erwerber abgetreten werden können. Indessen erscheint es nach den gemachten Erfahrungen doch viel nachhaltiger, wenn von dem billigen Verkauf städtischer Ländereien zur Erbauung von Arbeiterwohnungen abgesehen wird und die betreffende Gemeinde selbst mit Erbauung derartiger Häuser vorgeht. Bei solchen Miethspreisen, wie sie in Industriegegenden üblich sind, würde, selbst wenn nur eine mäßige und dem wirklichen Werthe der Wohnungen entsprechende Miethe gefordert wird, das Baucapital, incl. der Kosten für Grund und Boden und incl. der sonstigen Kosten (Unterhaltung der Gebäude, Feuerkassengelder ec.), immer noch gut verzinst werden. Wenn hiergegen eingewendet wird, daß man mit einem derartigen Vorschlage den Privatpersonen Concurrenz schafft, so muß darauf erwidert werden, daß es im Interesse der Allgemeinheit und namentlich des Arbeiters liegt, daß seitens der Städte oder Gemeinden wirklich in eine solche Concurrenz eingetreten wird. Hat eine solche Gemeinde selbst Grund und Boden, so wird der Preis des zur Erbauung der einzelnen Arbeiterhäuser erforderlichen Areals immer billiger zu stellen sein, als wenn solches erst im Wege der Privatspeculation von dritten Personen erworben werden müßte; und selbst, wenn die Stadt dazu überzugehen verpflichtet wäre, von anderen Personen Grund und Boden zu dem Behufe zu erwerben, so würde sie unter günstigeren Verhältnissen und jedenfalls erheblich billiger, als dies seitens der Privaten geschehen könnte, den Grunderwerb ausführen können. Was aber die Ausführung der Bauten selbst betrifft, so wird jede Gemeinde solider bauen, als dies seitens der speculirenden Privatpersonen zu geschehen pflegt; denn derartige Bauten für Rechnung einer Commune würden ja nicht eben ausgeführt werden, um Gewinn durch Verkäufe zu erzielen, sondern lediglich und ausschließlich zu dem Zwecke, gesunde, billige und gute Wohnungen für die Arbeiter-Bevölkerung zu erhalten. Es giebt zwar in einzelnen Ortschaften Vereine, beispielsweise gemeinnützige Baugesellschaften, die sich das Wohl der arbeitenden Klasse zum Ziele gesetzt haben, die aber, obwohl ihre Bestrebungen anzuer-kennen sind, nach den gemachten Erfahrungen nicht in derselben billigen und soliden Weise Wohnungen für Arbeiter herstellen können, wie dies seitens einer Gemeinde geschehen kann. Die Mitglieder solcher Gesellschaften und Vereine wollen von den zu dem bezeichneten Zwecke hergegebenen Geldern nichts verlieren, so daß sie also schon von vornherein aus rein finanziellen Rücksichten darauf Bedacht werden nehmen müssen, die Anlagen so einzurichten, daß sie durch die Verwerthung derselben keine Verluste erleiden. Oftmals ist es aber auch geradezu das Bestreben derartiger Vereine, ihre angelegten Gelder so hoch, als nur immer möglich, zu verwerthen und herauszuschlagen, was nur immer herausgeschlagen werden kann. Solche Personen, die große Opfer für die bezeichneten Zwecke bringen, werden fast selten, immerhin aber nur in sehr geringer Zahl vorhanden sein.

 

Bei der Unterbringung von obdachlos gewordenen Familien würde auch noch eine besondere Klassifizirung derselben einzutreten haben. Es kann Familien geben, welche durch Unglücksfälle oder durch zufällige Umstände in Betreff ihrer Wohnung in die allerbedrängteste Lage gerathen, und denen es trotz der redlichsten Bemühungen nicht gelingen will, ein angemessenes Unterkommen zu finden, deren ganzes Verhalten aber niemals zu Klagen Veranlassung gegeben hat, und die daher das ganze Mitleid und das Wohlwollen ihrer Mitbürger und Behörden im vollsten Maße verdienen. Solche Familien würden in seitens der Gemeinde zu errichtenden Wohnungen gegen Bezahlung einer angemessenen Miethe unterzubringen sein, so daß sie lediglich in dem Verhältnisse eines Miethers zum Vermiether stehen und in keiner Weise durch Beaufsichtigung u. s. w. besonders zu controliren sein würden. Dahingegen würden solche Familienhäupter, die durch eigenes Verschulden, durch Spiel, Trunk oder Müßiggang, derartig heruntergekommen sind, daß sie sich nicht im Stande befinden, sich und ihre Angehörigen zu ernägenössischen Bewußtsein verankert war, noch das Bild, das sich bis heute überliefert hat. Hier liegt eine Quelle vor, die auf andere Art an die Entwicklung Bochums herangeht.Eine Vielzahl pädagogischer und heimatkundlicher Schriften überflutete um die Jahrhundertwende das Deutsche Reich, und dieser Zeitpunkt war kein Zufall. Die innerdeutsche Völkerwanderung zu den Stätten der Industrialisierung war abgeebbt, man blickte um sich und fragte, wo man denn nun gelandet sei. Und sofern man es sich leisten konnte Stadt Dresden hat in dieser Beziehung eine wirkliche Musteranstalt errichtet, und darf nicht verkannt werden, daß auch durch derartige Einrichtungen das Opfer für die Communen erheblich verringert wird, weil durch den Arbeitsverdienst der betreffenden Personen die Kosten des Unterhalts für die einzelnen Familien, wenn auch vielleicht nicht ganz gedeckt, so doch erheblich verringert werden würden.

 

Gute, gesunde und billige Wohnungen wirken in erheblichem Maß auf das Wohlbefinden und das häusliche Glück der betreffenden Familien in nicht zu unterschätzender Weise ein. Eine gute und gesunde Wohnung wird den Mann häuslicher, die Frau wirthschaftlicher machen. Während sonst der Mann seine Zerstreuung in Wirthshäusern sucht, wird ihn die anheimelnde Wohnung in der eigenen Familie zu Hause zurückhalten; die Frau aber wird nicht in die Nachbarschaft eilen, um aus ihren engen und dumpfen Räumen herauszukommen; sie wird mehr für Reinlichkeit und Ordnung im eigenen Hause zu wirken suchen, sich der Beaufsichtigung und Erziehung ihrer Kinder in nachhaltigerer Weise widmen können und mit ihrer Familie ein zufriedeneres Leben führen. Aus gesunden Wohnungen bleiben Krankheiten möglichst fern, während die engen schmutzigen Wohnungen oft denHerd zu unausgesetzten Krankheiten bilden.

 

Impressum

1985 Bochumer Heimatbuch

 

Band 8

 

Herausgegeben von der Vereinigung für Heimatkunde Bochum e.V.

 

Verlag:

Schürmann & Klagges

 

Titelbildgestaltung:

„Schorsch-Design®" Georg Wohlrab, Heusnerstraße 17, Bochum

 

Gesamtherstellung:

Druckhaus Schürmann & Klagges,

 

Bochum ISBN-Nr. 3-920612-06-X